Ein deutsch-japanisches Ehepaar lebt zusammen in Deutschland. Die japanische Frau ist mit einer komplexen und für sie sehr wichtigen Arbeit beschäftigt. Zwei deutsche Kollegen kommen zu Besuch, um sie bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Ihr deutscher Ehemann öffnet den beiden Kollegen die Tür, begrüßt diese freundlich und zieht sich dann wieder zurück, da er nicht weiter stören möchte. Beim Aufbruch der beiden Gäste kommt der Ehemann wieder hinzu und verabschiedet sich freundlich von ihnen. Auch die Japanerin verabschiedet sich freundlich von ihren Kollegen und dankt diesen überschwänglich für ihre Unterstützung. Kurz nachdem die beiden Gäste das Haus verlassen haben, zeigt sich die Ehefrau sauer und beleidigt, ein kleiner Streit bricht aus. Es geht hierbei um das Verhalten ihres Ehemannes gegenüber ihren Kollegen. Mit der Situation überfordert und voneinander genervt wechseln die beiden Ehepartner schließlich das Thema. Nur eins scheint, wieder einmal, festzustehen „Undurchschaubare Japaner!“- „Unhöfliche Deutsche!“
Individuen und das Wertequadrat
Die Punkte „Großzügigkeit“ und „Sparsamkeit“ markieren positive Werte, im Idealfall befinden sich diese in einer Balance, denn erst so können sich die einzelnen Werte entfalten. Mit den Punkten „Verschwendung“ und „Geiz“ stehen sich Extremwerte bzw. Unwerte gegenüber, diese stellen das Resultat entwertender Übertreibungen dar. Diese wechselseitigen Vorwürfe sind eine Folge von Verzerrung in Wahrnehmung und Interpretation. Solche Vorwürfe entstehen vor allem dann, wenn sich ein Mensch in seiner persönlichen Identität angegriffen fühlt, weil für ihn bedeutsame Werte vom Gegenüber in Frage gestellt werden.
Von Individuen zu Kulturen:
Menschen sehen sich selbst nicht als isolierte Individuen. Ihr Selbstkonzept umfasst neben der persönlichen Identität auch die Soziale Identität, diese gewinnen Menschen, indem sie sich Gruppen zuordnen. Eine Kultur kann auch als identitätsstiftendes Orientierungssystem bezeichnet werden. Dieses definiert die Zugehörigkeit, reguliert das Verhalten seiner Mitglieder und strukturiert deren Wahrnehmung und Deutung der Umwelt. Menschen neigen als Mitglieder einer Gruppe dazu, eine positive soziale Identität zu entwickeln, dies kann auch durch das Abwerten anderer Gruppen geschehen. Daher bewerten Menschen nah stehende Positionen (Ihre eigene Kultur) auch noch näher und ihre Eigengruppe noch besser, als es der Wirklichkeit entspricht, umgekehrt ist dies ebenso der Fall.
Das Innere Team
Das Innere Team ist ein „Team für interkulturelle Angelegenheiten“. Dieses besteht meist aus einer Kerngruppe von vier Teammitgliedern, die in dieser oder ähnlichen Variationen immer enthalten sind.
Mitglied 1: Dieses Mitglied unseres Inneren Teams ist prinzipiell neugierig und fremden Kulturen gegenüber aufgeschlossen.
Mitglied 2: Dieses Teammitglied möchte lieber zuhause bleiben, denn es empfindet „die anderen“ als seltsam und ganz anders. Es leidet an der „Obelix-Verzerrung“. Hier wirkt Kulturfremde sehr irritierend daher werden die eigenen Landsleute vorgezogen.
Mitglied 3: Dieses Mitglied ist der eigenen Kultur mehr verhaftet als ihm eigentlich bewusst ist, seine Verhaltensmuster gelten ihm daher als selbstverständlich. Dass andere Kulturen diese Verhaltensmuster missverstehen können, ist diesem Teammitglied nicht bewusst.
Mitglied 4: Dieses Teammitglied verdeutlicht, dass jeder etwas von einer anderen Kultur in sich trägt. Allerdings verhindern die anderen Teammitglieder oftmals, dass dieses Mitglied im inneren Team überhaupt hervortreten kann.
Ausgangssituation:
Mitglied 2 erhebt seine Stimme und sorgt für eine Obelix-Verzerrung. Der jeweils andere wirkt fremd und befremdlich zugleich. Ohne es zu merken stehen die beiden Eheleute einer Auflösung ihres Streits im Wege.
Selbstkonzept: Gemeinschafts-Ich vs. Individual-Ich
Den Hintergrund dieser Situation bildet ein kulturbedingtes unterschiedliches Selbstkonzept. Auf japanischer Seite herrscht ein kollektivistisches Selbstkonzept vor. Der Einzelne sieht sich wenig als Individuum, sondern aufgrund der Sozialisation mit den Angehörigen seiner Binnengruppe sieht er sich strukturell verflochten. Dies wird als „uchi“ (wörtlich: innen) bezeichnet und stellt im Fallbeispiel die Ehegemeinschaft dar. Das eigene Selbst definiert sich also in Bezug auf das jeweilige „uchi“, identifiziert sich mit diesem und passt sich entsprechend an. Bei Deutschen herrscht allerdings das Individual-Ich vor. Dieses zeigt sich als autonom und unabhängig und möchte seine Ziele selbst bestimmen und verfolgen. Ziel ist es dabei die eigne Individualität zu betonen und weiter auszuprägen. Das Kulturquadrat:
Dieses Kulturquadrat zeigt in seinem oberen Bereich, welchen Interaktionsprinzipien die japanische-, beziehungsweise die deutsche Kultur verhaftet ist. Der untere Bereich symbolisiert die Entwertung der beiden Prinzipien in Extremformen. Des Weiteren zeigt die untere Etage die Richtung des wechselseitigen Unverständnisses, sowie der wechselseitigen Verächtlichkeit an, die sich dann in Vorwürfen äußern kann. Diese Vorwürfe spielen in unserer ausgewählten Situation eine tragende Rolle.
Ausgangssituation: Aus Sicht der japanischen Ehefrau haben ihre Kollegen durch die Unterstützung nicht nur ihr als Individuum einen Dienst erwiesen, wofür sie sich angemessen bedanken sollte. Das Gemeinschafts-Ich der Japanerin umfasst hier auch ihren Ehemann, denn ihm ist die Hilfe unter Berücksichtigung des Gemeinschafts-Ichs auch zugekommen. Aus diesem Grund erwartet die japanische Frau von ihrem Mann, dass dieser sich ebenfalls angemessen bei ihren Kollegen bedankt. Weil er dies allerdings nicht tut, sieht seine Frau ihr eheliches Gemeinschafts-ich missachtet und empfindet die Reaktion ihres Mannes den Kollegen gegenüber als unhöflich und sogar beleidigend. Die deutschen Kollegen hingegen fühlen sich aufgrund ihres Individual-Ichs keineswegs beleidigt. Das Gegenteil ist der Fall. Würde sich der Ehemann tatsächlich auch überschwänglich für deren Hilfe bedanken, empfänden sie das als sehr irritierend, da sie dies mit dem Verhalten eines Vaters mit Blick auf seine kleine, unselbstständige Tochter verbinden würden und somit die Schlussfolgerung lauten würde, dass seine Frau keinerlei Individualität und Autonomie hätte.
Missverständnis 2
Ausgangssituation:
Eine kleine Gruppe, die aus überwiegend Deutschen und einem Japaner besteht, geht gemeinsam zum Essen. Als die Frage auftritt, welches Restaurant die Gruppe aufsuchen solle, meint der Japaner sofort, dass es ihm egal sei und dass er mit jedem Restaurant einverstanden sei. Im Restaurant angekommen geht es nun um die Bestellung. Noch bevor der Kellner die Bestellung aufnimmt, fragt ein Bekannter den Japaner, was er denn gewählt habe. Als diese zögert zu antworten, meint der deutsche Bekannte leicht genervt „Nur keine falsche japanische Bescheidenheit. Sag doch einfach, was du gerne essen möchtest.“ Daraufhin fühlt sich der Japaner von seinem deutschen Bekannten bloßgestellt.
Handlungskonzept: Situationsorientierung vs. Ausdrucksorientierung Das Handlungskonzept drückt aus, wie Menschen nach außen in unterschiedlichen Situationen handeln und was sie dabei für „richtig“ oder „falsch“ halten. Handlungskonzepte sind unter anderem kulturell geprägt und damit interkulturell unterschiedlich. In Japan ist das Handlungskonzept stark situationsorientiert. Personen, die einem solchen Handlungskonzept nachgehen stellen sich beispielsweise folgende Fragen „was muss ich in einer bestimmten Situation tun?“ „Was erwarten andere von mir?“ und „Wie verhalte ich mich richtig?“. Im Gegenteil dazu neigen die meisten Deutschen zum ausdrucksorientierten Handlungskonzept. Hier geht es weniger darum, was andere erwarten, sondern viel mehr darum was man selbst will und wie man sich selbst fühlt.
Die untere Ebene des Kulturquadrates zeigt die negativen Extremformen, die sich auf den typischen Vorwürfen von Seiten der jeweils anderen Kultur begründen. So wirkt die Ausdrucksorientierung der Deutschen für die Japaner als rücksichtslos oder rüde, die Situationsorientierung der Japaner auf die Deutschen als Überangepasstheit oder sogar Lüge. Doch Situationsorientierung kann auch in westlichen Kulturen vorherrschen, dies geschieht allerdings eher in professionellen Kontexten wie beispielsweise beim Bedienen in einem Restaurant. In Japan bedeutet Situationsorientierung jedoch noch mehr. Es gilt hier Äußerungen und Verhalten so einzusetzen, dass die Harmonie in der Beziehung zwischen den Interaktionspartnern nicht gestört wird. Es gilt hierbei herauszufinden, was die anderen von einem selbst erwarten und dies dann umzusetzen.
Ausgangssituation: Auf Basis der Situationsorientierung hat sich der Japaner in der Ausgangssituation gänzlich korrekt verhalten. Er kann die Bemerkung „falsche japanische Bescheidenheit“ nicht nachvollziehen, da er sich nach seinem Verständnis angemessen und sehr höflich verhalten hat.
Missverständnis 3
Ausgangssituation:
Ein Japaner sendet eine E-Mail an seinen deutschen Geschäftspartner, die beiden kennen sich schon seit längerer Zeit. Nach einigen Worten zur Begrüßung folgt der Satz „Ich habe Streit mit meiner Ehefrau gehabt.“ Der Japaner führt dies noch kurz aus und widmet sich dann den geschäftlichen Fragen. Er beendet die E-Mail höflich. Der deutsche Geschäftspartner fühlt sich einerseits berührt von dem Vertrauen, das ihm sein japanischer Kollege entgegenbringt, andererseits ist er aber auch sehr verwirrt. Er folgert hinsichtlich der japanischen Zurückhaltung, dass es sich hier um eine sehr ernste Ehekrise handeln muss und beschließt in seiner Antwortmail kurz Bezug auf die Ehekrise zu nehmen. Er schreibt, dass ihm die Ehekrise sehr leid täte und gibt seinem japanischen Kollegen daraufhin noch einen Rat um sein Mitgefühl nochmals zu verdeutlichen.
Beziehungs-vs. Sachorientierung In Japan ist eine ausgeprägte Beziehungsorientierung essenziell, vor allem in der Begrüßung. Diese dient der Beziehungspflege und bedarf oftmals einer Klärung und Anerkennung der wechselseitigen formellen Beziehung. Sofort auf den Punkt zu kommen wäre daher äußerst unangemessen und würde dem Gegenüber jeglichen Respekt versagen. Westliche Kulturen hingegen zeichnen sich durch eine viel stärkere Sachorientierung aus. Das Augenmerk liegt auf der Sache (das Geschäft). Auf „leere Rituale“ wird hierbei kein Wert gelegt, da sie als Zeitverschwendung gesehen werden.
Kulturquadrat:
In beiden Kulturen sind Beziehungs- und Sachorientierung bei beruflichen und privaten Kontakten unterschiedlich gewichtet. In Deutschlang genügt meist ein gemeinsames Sachinteresse, um eine Beziehung einzugehen und diese zu pflegen. Wenn keine Interessensübereinstimmung mehr stattfindet, so wird auch die Beziehung meist nicht mehr weiter gepflegt. In Japan hingegen stellt das Bestehen einer positiven formellen Beziehung eine Art Voraussetzung für das Verfolgen gemeinsamer Sachinteressen dar. Wenn eine solche Beziehungsübereinstimmung nicht besteht, kommt es auch zu keinem dauerhaften Austausch auf der Ebene der Sachinhalte. Wenn eine bestehende Beziehung zerbricht, erlöscht damit die verbindende Basis und somit erfolgt ein Rückzug aus der Interessenspartnerschaft.
Implizite und explizite Kommunikation Im Gegensatz zur deutschen Kultur zeichnet sich die japanische Kultur durch implizite Kommunikationsformen aus. Entsprechend der Situationsorientierung muss in einer sogenannten „high context culture“ aus dem Kontext schlussgefolgert werden, was mit dem Gesagten eigentlich gemeint ist. Vor allem westliche Kulturen können dieses System nur sehr schwer durchschauen und verstehen daher meist gar nicht, auf was ihr Gegenüber hinaus möchte. Westliche Kulturen werden daher als „low context cultures“ bezeichnet. Sie greifen viel weniger auf den Kontext zurück und äußern sehr explizit, was sie meinen oder möchten. Japaner nehmen dies häufig als unhöflich, und manchmal sogar als rücksichtslos wahr.
Verlorene und imaginierte Botschaften
Gesendete Botschaften, die ihr Ziel nicht erreicht haben, weil sie der Empfänger nicht oder nur entstellt wahrnimmt, werden als verlorene Botschaften bezeichnet. Von imaginierten Botschaften ist die Rede, wenn ein Kommunikationspartner lediglich wähnt, sie von seinem Gegenüber erhalten zu haben, während sie dieser so nicht übermittelt haben will. Missverständnisse können daher als verlorene oder imaginierte Botschaften definiert werden.
Beispielsituation: Einem deutschen Tochterunternehmen wird vom Mutterkonzern in Tokio ein kompetenter japanischer Mitarbeiter avisiert. In seiner neuen Abteilung sind der Chef und auch fast alle anderen Kollegen Deutsche. Sie freuen sich sehr auf eine kompetente und eigenständige Unterstützung ihres Teams. Auch nach längerer Zusammenarbeit wendet sich der Japaner allerdings immer noch sehr häufig mit Fragen wie „Sollen wir dies so machen?“ oder „Sind Sie einverstanden, Herrn X einzubeziehen?“ sowohl an seinen Chef, als auch an seine Kollegen. Aufgrund dessen kommen zunehmend Zweifel an der Eignung des Japaners auf. Die Deutschen Mitarbeiter fühlen sich außerdem durch die zeitliche Inanspruchnahme mit den unnötigen Fragen belästigt. In einem Gespräch vermittelt ihm sein Chef, dass er von mehr Selbstständigkeit auf Seiten des Japaners ausgegangen ist. Wenige Monate später lässt sich der Japaner nach Tokio rückversetzen.
Aus deutscher Sicht zeigt das viele Fragen des Japaners ganz klar, dass dieser sich unsicher fühlt und daher nicht sehr kompetent ist. Das Gespräch mit dem deutschen Chef verläuft dann alles andere als gut. Die Selbstkundgabe des Chefs ist vermutlich „Ich bin enttäuscht von Ihnen“, diese geht einher mit dem Appell „Zeigen Sie mehr Selbstständigkeit“ und einer negativen Beziehungskonnotation. Die negative Beziehungsbotschaft kommt beim Japaner an, er kann dies nicht verstehen, da er seinerseits nur positive Beziehungsbotschaften gesendet hat. Aus seiner Sicht ist das häufige Fragen der kulturtypisch implizite Ausdruck der Beziehungsorientierung und bedeutet einerseits „Ich möchte Sie nicht übergehen“ letztlich aber „Ich arbeite gerne mit Ihnen zusammen und erkenne Sie als Chef und als Kollegen an“. Umgekehrt hätten die deutschen Mitarbeiter ihrem japanischen Kollegen ihre Wertschätzung durch Bestätigungen, durch vergleichbare Sachfragen ihrerseits und besonders durch einen ausgesprochenen Dank für die vertrauensvolle Einbeziehung vermitteln können.
Auflösung Ausgangssituation
In der E-Mail des japanischen Geschäftspartners steht mit dem Satz „Ich hatte Streit mit meiner Frau“ aus dessen Sicht nicht die explizite Botschaft auf der Ebene der Sachinhalte im Vordergrund. Wichtig ist hier nur die implizite Botschaft auf der Beziehungsebene. Durch die Selbsterniedrigung (Ehekrise), beziehungsweise die Erhöhung des anderen soll ihm gegenüber Wertschätzung, Dankbarkeit und Sympathie vermittelt werden. Die Aussage „Ich hatte Streit mit meiner Frau“ bedeutet daher nicht die Selbstkundgabe einer Ehekrise, dies denkt allerdings der deutsche Kollege. Er versteht unter dem Satz eine Selbstkundgabe (=imaginierte Selbstkundgabe), verbunden mit einem Appell (=imaginierter Appell) in Form von einer Bitte um Hilfe. Gleichzeitig wird eine positive Beziehungsbotschaft imaginiert, die aussagt, dass der japanische Geschäftspartner seinem deutschen Kollegen vertraut. Auf Basis seiner Fehleinschätzung reagiert der Deutsche nun aus seiner Sicht mitfühlend und in bester Absicht, indem er eine Selbstkundgabe zurücksendet: „Ich fühle mit Ihnen“. Außerdem möchte der deutsche Geschäftspartner mit einem guten Rat „Tun Sie…!“ sein Mitgefühl nochmals unterstreichen. Da der deutsche die Beziehungsbotschaft seines japanischen Geschäftspartners komplett falsch interpretiert hat, erhält der Japaner die erwartete positive Beziehungsbotschaft seines deutschen Kollegen nicht retour. Stattdessen interpretiert er die explizite Äußerung von Mitgefühl und gar eines Ratschlags als Überlegenheitsbekundung des Deutschen. So erhält der Japaner die imaginierte Beziehungsbotschaft „Ich erweise Ihnen keinen Respekt. Ich behandle Sie von oben herab.“ Ohne es zu wollen, geschweige denn zu wissen verletzt der deutsche Geschäftspartner durch seine Antwort die soziale Balance der wechselseitigen Beziehung.